Aus dem zerstörten Berlin nach Schleswig-Holstein verschlagen, begannen meine Eltern ab 1947 dort ihr neues Leben aufzubauen.

Erst 1947 war mein Vater aus amerikanischer und englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, nach Eutin, wo meine Mutter bei der damaligen britischen Militärverwaltung arbeitete. Denn beide Familien in Berlin waren ausgebombt worden, die Stadt selbst ein Trümmerhaufen. Berlin blieb unser Referenzpunkt. Oft besuchten wir die jeweiligen Grosseltern in Ost und West der geteilten Stadt; die Mauer und die Kontrollen am Übergang Friedrichstrasse waren für mich eine prägende Kindheitserfahrung. Viel später sollte meine Mutter in ihre Heimatstadt zurückkehren.

So kam ich in Eutin zur Welt, ging dort in die Schule bis zum Abitur in der letzten reinen Mädchenklasse des Gymnasiums.
Mein Vater sprach viel Englisch mit mir, sang gerne songs von Frank Sinatra und erzählte von der Baumwollernte der PW’s (prisoners of war) in Texas. Er las mir viel vor, und sobald ich konnte, begann ich selbst zu lesen, oft nachts unter der Bettdecke mit Taschenlampe. 
So ergab es sich fast selbstverständlich, dass ich nach dem Abitur deutsche, englische und amerikanische Literatur studierte. Berufsziel: Journalistin.
Vor dem Studium an der Universität Hamburg absolvierte ich – arrangiert vom Vater – eine Lehre als Industriekaufmann in Frankfurt und schuf mir mit dem Abschluss eine erste solide berufliche Basis, die mir während der Studiums und in meinem späteren Berufsleben enorm nützte. Das Kalkül meines Vaters war aufgegangen.

Durch einen Zufall bewarb ich mich gegen Ende meines Studiums beim Goethe-Institut. Tatsächlich gehörte ich zu den 1% der angenommenen Bewerber und unterschrieb 1978 einen unbefristeten Vertrag in München mit unbeschränkter Auslandsverwendung. Das bestimmte mein Leben die nächsten Jahrzehnte, in denen das Ausland mein Zuhause wurde.
Bevor ich in München begann, erfüllte ich mir den Wunsch einer mehrmonatigen Südostasienreise.
Später konnte ich dann für das Goethe-Institut in China (Shanghai) und Südkorea mehrere Jahre arbeiten und diese Region intensiv bereisen.
Meine Asien-Zeit beendete ich mit der Rückreise nach Europa via Transsibirische Eisenbahn.
Madrid, Riga und Paris waren die darauffolgenden Dienstorte, die mir erlaubten, Europa genauer kennenzulernen und die jeweiligen Sprachen zu vertiefen. Seitdem erkunde ich die dichte, reichhaltige Kulturlandschaft Europas, seit 25 Jahren gemeinsam mit meinem Ehepartner, dem Maler und Grafiker Ulysses Belz. 
Es war immer unser Ziel, im Süden zu leben. Wir haben uns vor einigen Jahren im Osten von München niedergelassen – mit einer Dépendance am Mittelmeer.

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Arbeiten im Ausland
(30 Jahre Goethe-Institut)

Als ich 1978 meinen unbefristeten Vertrag mit dem Goethe-Institut unterschrieb, ahnte ich nicht, wie grundsätzlich sich mein Leben dadurch ändern würde. Die Klausel „uneingeschränkt versetzbar“ kündigte ein Leben mit Umzügen an immer neue Dienstorte an, womit ich sehr einverstanden war. Nur kein Berufsleben, das in Routine erstarrte!

Das erste Jahr in der Zentrale in München als Auszubildende gab Einblick in die verschiedenen Sparten zur „Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur“, wie es der Rahmenvertrag mit dem Auswärtigen Amt umschrieb, der für die 146 Goethe-Institute im Ausland galt.

Danach begann ich zunächst – ausgestattet mit ersten Kenntnissen in „Deutsch als Fremdsprache“ – als Lehrerin am Inlandsinstitut in Boppard am Rhein (damals gab es deren 16 in Deutschland). Ich unterrichtete im 2-Monatstakt Erwachsene aus der ganzen Welt, die schnell, intensiv und möglichst gut Deutsch lernen wollten für den Beruf oder fürs Studium. Die Kurse waren kostspielig, die Erwartungen hoch und ebenso die Anforderungen an die Lehrer. Da es sich um Erwachsene handelte, fielen pädagogische Aufgaben (weitgehend) weg. Die meisten lernten schnell; nach 2 Monaten war aus einer internationalen Gruppe eine Art Grossfamilie geworden und die Abschiede fielen manchem schwer, enge Freundschaften über die Grenzen der Kontinente, Religionen und Kulturkreise hinaus waren entstanden. Die Lehrer waren die zentralen Bezugspersonen, der Schlüssel nicht nur zur Sprache, sondern auch zur deutschen Welt.  Das war eine lehrreiche und dankbare Aufgabe – aber da waren auch die grossen Möglichkeiten des Kulturaustausches im Ausland, die ich anstrebte.

Eine erste Chance, die sich mir bot, war ein Lehrauftrag an der Tongji-Universität Shanghai, ein Jahr in China (!),  eine Gelegenheit, die ich sofort ergriff. In meinem Buch „Tausend Meilen unter meinem Fuss“ habe ich über diese Zeit berichtet.

Nach diesem Jahr hatte das Auslands-Virus mich erfasst, und wenige Monate später zog ich erneut nach Asien, dieses Mal nach Südkorea und dieses Mal für 5 Jahre, ein solider Zeitraum, um sich in einen neuen Arbeitsbereich, einen neuen Kulturraum einzuarbeiten, das Land und Ostasien genauer kennenzulernen. 

Fünf Jahre später, das war der übliche Zyklus, kam die nächste Versetzung für kurze Zeit nach Frankfurt, danach nach Madrid, nach sieben Jahren nach Riga und danach – nach weiteren fünf Jahren – nach Paris. Dort – nach sechs Jahren – beendete ich mein berufliches Leben. Ich hatte viel erlebt, gelernt, hatte Erfolge, Pannen und Misserfolge erlebt und viele interessante Menschen getroffen.

Die Vergangenheit verdichtet sich mit der Erinnerung. Einige dieser Verdichtungen halte ich hier fest. Weil ich gern an sie denke und sie gern erzählen möchte.

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Das Goethe-Institut Riga feiert sein 10-jähriges Jubiläum

Premierenfeier in der Oper Riga. Kammeroper „Lenz“ von Wolfgang Rihm
J.Limbach, Präs. des GI, Botschafter Herold, Dir. GI Riga S. Belz, L. Kestere, PR, R. Ackermann, Regie

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Pilar de Borbòn trifft in Madrid auf Hans Werner Henze

Als ich das erste Mal telefonisch Kontakt zu ihm aufnahm, meldete er sich sofort selbst mit heller, eiliger Stimme: „Henze“. Ich hatte ein Sekretariat erwartet im Büro des bekannten deutschen Komponisten und brachte nun schnell mein Anliegen vor: in einer Reihe deutscher Komponistenportraits wollten wir, das Goethe-Institut Madrid, Henzes Kompositionen vorstellen. Der Moment war ideal, denn das Teatro Real, das Königliche Opernhaus, das erst 1997 wiedereröffnet worden war, hatte für den Sommer 1999 die Inszenierung seiner Oper „Die Bassariden“ angekündigt. Henze war sofort einverstanden und schlug möglichst bald ein Treffen vor, um alles zu besprechen. Die Stimme war nun noch heller, noch eiliger.

Wenige Wochen später  – ich war sowieso wegen der Filmfestspiele in Berlin – fuhr ich ins „Four Seasons“, ein dem Maestro angemessenes Fünf-Sterne-Hotel am Alexanderplatz, wo Henze wegen eines Konzertes residierte. Er empfing mich nachmittags in seiner Suite souverän im weissen Bademantel. „Wollen Sie Tee oder Kaffee“?, war seine erste Frage. Als ich „Tee“ sagte, schien er zufrieden – „Ich auch Tee!“ gab er an Fausto weiter, seinen Lebensgefährten, der sich sofort kümmerte.

Henze war damals 73 und alles andere als ein saturierter älterer Herr. Er machte mir klar, dass er nicht nur ein Konzert und ein Gespräch um die Opernaufführung herum wollte, sondern ein wesentlich kompletteres Programm, sonst sei es doch kein „Portrait“. 

Henze war eben nur zu seinen Bedingungen zu haben, machte viele Vorschläge und stellte mir manches Mal eine Fangfrage zur Musik, um gewissermassen abzuklopfen, mit wem er nun zu tun haben werde. Nach einer guten Stunde und viel Tee hatten wir ein umfangreiches Programm ausgedacht; Hinweise auf meinen Budgetrahmen ignorierte er. Wenn Henze kam, durfte Geld keine Rolle spielen – verstand ich.

Von nun an begann ein intensiver Austausch per Telefon und Fax, was Henze besonders gern benutzte und handschriftliche Ergänzungen von Hieroglyphencharakter an meine Nachrichten anfügte. Antwortete ich nicht umgehend, rief er an.  Alles verlief offenbar zu seiner Zufriedenheit, auch die Madrider Institutionen nutzten die Gelegenheit, in einer Veranstaltungsreihe mit dem Teatro Real, Madrids neuem Prestige-Opernhaus, ihren eigenen Status zu unterstreichen.

Henze antwortete schliesslich sogar einmal mit einer 2-Takt-Komposition zu meinem Namen, als das Programm festgelegt war. Seine Privatsekretärin kam ins Spiel, als es nur noch um Flug- und Hotelbuchungen ging, Termine, Daten oder Kosten. Das Inhaltliche hatte der Komponist vollkommen in eigenen Händen behalten.

Der Juni 99 nahte. Das Teatro Real hatte umfangreich für Henzes Oper geworben und auch auf den Zyklus des Goethe-Instituts mit Konzerten und einer Henze-Lesung hingewiesen – eine hervorragende und seltene Werbung für unser Haus. Auch die Deutsche Botschaft unterstützte diesen seltenen Grossauftritt eines deutschen Komponisten in Madrid. Als abschliessenden Höhepunkt gab der deutsche Botschafter in seiner Residenz einen Empfang zu Ehren des Komponisten.

Die Opernaufführung war ein grosser Erfolg, auch der Einakter „El Cimarròn“ im Theater der Real Academia de San Fernando. Aber ins Herz der Spanier gelangte Henze durch die Lesung aus seiner Autobiographie („Reiselieder mit böhmischen Quinten“, Frankfurt 1996) in flüssigem Spanisch – schliesslich hatte er in seiner Jugend eine Zeit in Kuba verbracht, genau wie Hans Magnus Enzensberger, der das Libretto zum „El Cimarròn“ geschrieben hatte. Hier zeigte sich der Bühnenmensch. Er hatte gründlich geübt, las kräftig und schwungvoll, zwischen den einzelnen Abschnitten spielte der Pianist Jan Philipp Schulze – alles perfekt abgestimmt in Licht, Gestik, Dramatik. Ein selbstbewusster perfekter Auftritt, das Publikum war begeistert – und ich auch, denn allzu oft hatte ich erlebt, dass die eigene Lesung aus der Autobiographie voller Tücken sein kann.

Auch der Botschafter, der Musik liebte und vor allem grosse gesellschaftliche Anlässe, war von Henze begeistert. Kein introvertierter Künstler, sondern ein extrovertierter Bühnenstar – ein idealer Gast für einen hochrangigen Empfang. Denn das Königshaus, wo man ebenfalls Musik liebte, war eingeladen und hatte zugesagt. Wer würde kommen?

Der Botschafter und seine Gattin begrüßten die ausgewählten Gäste formvollendet vor der Residenz, standen aber nicht profan vor dem Eingang auf dem Gehweg, sondern auf einem eigens für sie platzierten Teppich, gerade groß genug für sie beide. Die mit geprägtem Wappen versehene Einladung hatte ausdrücklich „Smoking“ und „langes Kleid“ erbeten, und so schwebten alle gemessenen Schrittes in gleicher Kleidung vor, wurden namentlich begrüßt und dann vom Personal weitergeleitet in den grossen Garten. Eine Sitzordnung hatte man ausgehängt, so konnte jeder selbst herausfinden, an welchem der 10 runden Tische er Platz nehmen durfte – und neben welchen anderen Gästen. Unser Tisch hiess „Bayadere“.

Kerzen und Fackeln beleuchteten Tische und Garten – es war Juni und angenehm warm. Ein Aperitif wurde gereicht, man plauderte, während man wartete.

Henze und sein Gefährte Fausto waren am Tisch des Botschafters platziert mit Persönlichkeiten der Madrider Musikwelt. Dort würde auch der Repräsentant des Königshauses sitzen. Wer würde kommen? Die Gastgeberin war sichtlich nervös, eilte zwischen den wartenden Gäste hin und her. Dann entstand vom Eingang her Unruhe und die Menschengruppen wichen nach und nach zur Seite. „Doña Pi“, hörte ich. Das war die Kurzform für Pilar de Borbòn, die Schwester des Königs. Eine kräftige mittelgrosse Dame schritt mit Begleitung Richtung Botschafter, der ihr sofort entgegenstürzte, sie mit Handkuß begrüßte und an den zentralen Tisch geleitete. Alle durften nun Platz nehmen, das Dinner konnte beginnen. 

An unserem Tisch saßen einige Musikkritiker, die wir gut kannten. Doña Pi wird immer geschickt, wenn sonst keiner vom Königshaus Lust hat, wurde mir verraten. Ich blickte hinüber zu Henze. Er saß zwischen Doña Pi und der Gattin des Botschafters und strahlte.

Viel später, als sich die Sitzordnung begann aufzulösen, winkte mir der Botschafter zu, ich solle herüberkommen. Er stellte mich vor, auch Doña Pi nickte in meine Richtung, während sie kräftig rauchte. Das wusste man von ihr, aber niemand hatte wohl an einen Aschenbecher gedacht. Sie wandte sich gerade zu Henze: Ich höre ja am liebsten Pink Floyd! Henze blieb bei seinem liebenswürdigen Gesicht. Dann stumpte sie ihre Kippe ganz selbstverständlich irgendwo in ihrem Teller mit Essensresten aus.