Zeitungsartikel: Buch-Rezensionen

Es gibt Bücher, die dich das ganze Leben begleiten, die man immer wieder – und jedesmal anders – liest, gern daraus vorliest und sie weiterempfiehlt oder verschenkt. Als freie Kulturredakteurin konnte ich einige Jahre lang solche Bücher rezensieren. Die folgende Auswahl ist natürlich eine vollkommen subjektive – meine Auswahl.

Nichts ist schöner, als jemanden zu treffen, der gerade dasselbe Buch liest und für sich entdeckt – eine innige Verbindung. Und glücklicherweise ist der Vorrat an zu Lesendem unerschöpflich. Das ist sehr beruhigend – ein Reichtum für alle, die Bücher lieben!

Diese Rubrik wird kontinuierlich ergänzt.

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„Herkunft“

Zu seinem 70. Geburtstag schenkt Botho Strauss seinen Lesern ein außergewöhnliches Buch. Der Autor, der nie explizit autobiographisch schreiben wollte, tut es nun doch. Strauss erzählt seine Jugend in Bad Ems anhand der Erinnerung an seinen Vater zu dessen 100. Geburtstag und geht damit der Frage nach: „Woher komme ich?“

Irgendwann erlebt jeder einmal diese Situation: der elterliche Haushalt wird aufgelöst. Man nimmt Gegenstände der Kindheit oder Jugend wieder in die Hand, die das Gedächtnis wachrufen und bis in die Gegenwart sprechen.

Mit zehn Jahren – 1954 – zieht Botho Strauss mit seinen Eltern von Naumburg an der Saale nach Bad Ems. Der Vater,  promovierter Chemiker und Teilhaber einer pharmazeutischen Firma war dort enteignet worden. In Bad Ems versucht der 60-Jährige einen beruflichen Neuanfang, der ihm als freiberuflicher Pharmazeut und Gutachter nicht mehr gelingen will. Botho Strauss sieht den Vater jeden Morgen akkurat gekleidet sein Büro zu Hause einnehmen und dort Tag für Tag, nur durch die Mahlzeiten unterbrochen, in sorgfältiger Handschrift und Formulierung neue Präparate beurteilen oder selbst Arzneien entwicklen. Dem Misserfolg setzt der Vater Disziplin entgegen.

Hat die gebeugte Schreibhaltung des Vaters den Schriftsteller früh geprägt? Dessen wissenschaftliche und satirisch-politische Schriften lehnte der Sohn ab, auch die selbsthergestellte Monatszeitschrift „Der Kompass“. Dabei bewunderte der Vater Thomas Mann – den frühen, monarchistischen –  und eiferte ihm durchaus nach. Aufschlussreiche, ja fast literarische Briefe an die „schöne Mama“, die der Sohn nun 50 Jahre später in der Hand hält. „Man altert….immer noch geradewegs in das hinein, was man als rettungslos veraltet empfand.“

Von Bad Ems aus ging es zum ersten Mal ins Kino, zu Konzerten und in die umliegenden Stadttheater. In den Bad Emser „Kurlichtspielen“ erinnert sich Botho Strauss an seinen ersten und öffentlichen Auftritt – die Abschlussrede bei der Abiturfeier. Manches erscheint im Rückblick im milden Licht der Verklärung, nicht aber die eigene Person, schon in der Rolle des Einzelgängers, des zumeist Abseitsstehenden, der genau beobachtet. Damals begann die Leidenschaft für das Theater, auch dank des Fernsehers, den der Vater auf Drängen des Sohnes anschaffte. Die jeden Donnerstag übertragenen Inszenierungen klassischer und moderner Stücke schufen beim jungen Botho Strauss einen inneren Fundus, auf den er sich heute noch bezieht.

Mit Nostalgie hat das nichts zu tun. „Herkunft“ bietet einen erstaunlich schonungslosen Blick auf sich selbst, auf das eigene Leben und die eigene Kunst – auf das Erbteil, das in ihm steckt als Sohn des ernsten, vom Schicksal nicht begünstigten Vaters. Es ist das Eingeständnis, dass das alles ihn stärker prägt, als er wahrhaben wollte.

Hier begegnet uns ein sanfter, milder Botho Strauss. Es ist seine Einverständniserklärung mit dem Schicksal und seine späte Liebeserklärung an die Eltern. Wer diesen bedeutenden deutschen Autor noch nicht kennt, kann mit „Herkunft“ gut zu ihm aufbrechen.

Botho Strauss. Herkunft. Hanser Verlag 2014, 96. Seiten

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„Unterwerfung (Sousmission“)

Seit seinem Roman „Elementarteilchen“, der in Deutschland sogar erfolgreich verfilmt wurde, gilt der Pariser Autor Michel Houellebecq als das enfant terrible der französischen Gegenwartsliteratur. Anfang Januar 2015 erschien sein neuer Roman „Unterwerfung“, der in Frankreich und Deutschland mit ganz unterschiedlichen Reaktionen aufgenommen wurde.

Der Roman entwickelt ein Zukunftspanorama für Frankreich Im Jahre 2022, also  in allernächster Zukunft, aus dem Blickwinkel der Hauptfigur, dem Pariser Literaturprofessor François. Dieser lehrt an der Universität Sorbonne III Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts und hat sich dort mit erreichter Universitätskarriere und wechselnden Liebschaften mit Studentinnen bequem – vielleicht zu bequem? – eingerichtet.

Die Karierrediskussionen seiner Kollegen und die sich abzeichnenden Veränderungen innerhalb des Universitätsbetriebes interessieren ihn wenig, auch nicht Gerüchte über Angriffe auf Dozenten anderer Universitäten, ausgehend von einer Bewegung junger Salafisten. Immerhin fällt ihm auf, dass der Verband jüdischer Studenten nicht mehr auf dem Campus zu sehen ist, stattdessen aber der Jugendverband der Bruderschaft der Muslime überall vertreten. Eines Tages sitzen zum ersten Mal zwei Studentinnen in Burka in seiner Vorlesung, deren irgendwie bedrohliche Begleitung auf dem Flur patrouilliert. Warum war er beunruhigt?, fragt er sich.

In Frankreich ist Wahlkampf. Hier greift Houellebecq auf bekanntes Politpersonal zurück und mischt verwirrend Realität in seine Fiktion. Es geht um die Wieder- oder Abwahl des amtierenden Präsidenten François Hollande. Eine neue Partei hat sich installiert, die „Bruderschaft der Muslime“, die mit dem gemäßigten Muslim Mohammed Ben Abbès in die Stichwahl gegen Marine Le Pen gewählt wird – und gewinnt. Mit den Stimmen der Linken, die um jeden Preis den Sieg des Front National verhindern wollten, hat Frankreich plötzlich seine ersten muslimischen Präsidenten mit dem altbekannten François Bayrou als Premierminister. Alles Fiktion! Aber Houellebecq schildert dies mit einer Glaubwürdigkeit, dass einem der Atem stockt.

Frankreich islamisiert sich nun von innen; auch die von Saudi-Arabien finanzierte Universität Sorbonne wird umstrukturiert und François in den Ruhe stand geschickt. Allerdings nur zunächst. In einem brillant-satirischen Dialog mit dem von der Bruderschaft eingesetzten nichtmuslimischen, den Identitären nahestehenden Rektor entwickelt ihm dieser die verlockende Perspektive einer neuen Karriere bei geringfügiger inhaltlicher Anpassung im Lehrstoff mit mehr Gehalt und – mehreren Ehefrauen, ganz wie es der Islam vorsieht. Er müsse lediglich zum Islam konvertieren. Andere Kollegen wären schon dabei.

Die Islamisierung Frankreichs geht ohne Gegenwehr der bisherigen Eliten vonstatten. Macht – und Eigeninteressen bestimmen die widerstandslose Unterwerfung. Für die Rechte der Frauen erhebt sich keine Stimme in diesem Buch, das die Rückkehr zum Patriarchat als heimliche Sehnsucht der Männer entlarvt. Houellebecq hält seinen (männlichen) Zeitgenossen mit beißender Satire und tiefgründiger Komik schonungslos des Spiegel vor.

Michel Houellebecq, „Unterwerfung“, Dumont-Buchverlag, 2015

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„Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“

„Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium.“ Dieses berühmte Zitat stammt von Winston Churchill, dem grossen englischen Staatsmann und Schriftsteller. Das vorliegende Buch versucht zwar nicht, dieses Rätsel, Geheimnis und Mysterium Russland zu erklären, aber es ermöglicht tiefe Einblicke in dessen Vielschichtigkeit.

Die Autorin, Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weissrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie bei ihren Recherchen führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen „Roman in Stimmen“. Sie hat bereits mehrere Bücher in diesem ihr ganz eigenen Genre vorgelegt. Diese wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt, die Autorin erhielt bedeutende Auszeichnungen dafür.

Ihr im August 2013 erschienenes Buch „Secondhand-Zeit“ wurde im gleichen Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.

Bis heute sind ihre Bücher in Weissrussland verboten – auch dies ein Detail der heutigen postsowjetischen Welt, in der die erzählenden „Helden“ in „Secondhand-Zeit“ mühsam Erinnerung und Neuanfang in Einklang zu bringen versuchen. Wie ein vielstimmiger Chor erzählen die Menschen von der radikalen Umwälzung seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums.

Die Gorbatschow-Zeit möchte man am liebsten vergessen, stattdessen wird Stalin und überhaupt die sozialistische Vergangenheit immer öfter verklärt. Dabei fehlt es nicht an grausamen Erfahrungen persönlichen Leidens – und einmal bemerkt sogar die Autorin, dass sie die Nostalgie für die Stalinzeit nie verstehen werde. „Der Russe braucht eine Idee, vor der er eine Gänsehaut kriegt und die ihm Schauder über den Rücken jagt“, so einer ihrer Gesprächspartner. Zur Perestroika: „Wir waren auf die Freiheit nicht vorbereitet…“

Die vielen eindringlichen und teilweise mühsam sich selbst abgerungenen Erinnerungen und Bekenntnisse geben einen erschütternden Einblick, was das Auseinanderbrechen des sowjetischen Imperiums als Lebensform für die Menschen dort bedeutete. Neue Ideen, neue Worte gibt es noch nicht – Russland lebt gleichsam in einer Zeit „secondhand“.

Swetlana Alexijewitsch kommentiert wenig. Sie legt lediglich die Geschichten nieder von denen, „die in Zeiten der nachsowjetischen Wirren unter die Räder gekommen sind. Heraus kommt ein Chor, wie man ihn aus der Antike kennt – aber die Szenen spielen jetzt, im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert“ – so der bekannte Historiker und Russlandspezialist Karl Schlögel anlässlich der Preisverleihung in der Paulskirche.

Nach diesem Buch weiß der Leser, wie rätselhaft das Mysterium Russland auch heute noch ist.

Swetlana Alexijewitsch, Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Hanser Verlag, 2013

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„Die Schlafwandler“

Christopher Clark, geboren 1960 in Australien und als Geschichtsprofessor in Cambridge tätig, verwirft in seinem Buch die bisher gängige These, das deutsche Kaiserreich habe mit seinen Grossmachtträumen den 1.Weltkrieg quasi im Alleingang verschuldet. Die Basis für seine Argumentation ist ein akribisches, unvoreingenommenes Studium der zahlreichen Quellen und ein beinahe minutiöses Nachzeichnen der Entwicklungen bis zur Julikrise 1914.

Spannend wie ein Krimi beschreibt Clark die Verhältnisse in Serbien und auf dem Balkan insgesamt, die das Attentat von Sarajevo auslösen. Die „großserbische Vision“ machte das kleine Land Serbien zum Brennpunkt einer Entwicklung, an deren Ende der ganze Kontinent in Flammen stand. Auch die Persönlichkeit des in Serbien ungeliebten Franz Ferdinand aus dem Hause Habsburg spielt eine große Rolle.

Clark blickt auf die entscheidenenen Schauplätze der Großmächte: Paris, London, St.Petersburg, Rom, Wien und Berlin. Er macht deutlich, wie sehr alle Beteiligten von der unübersichtlichen Lage und der Dynamik der Ereignisse überfordert waren und fast alle die Brisanz der Lage nicht erkannten oder nicht sehen wollten: Schlafwandler eben. 

Der Autor sucht und gibt keine Antwort auf die Schuldfrage. Er will nicht Ideologien und Schuld, sondern Entscheidungswege aufzeigen. Wie schwierig das ist, macht das Buch sehr eindrucksvoll und spannend klar. Die subjektiven Aspekte der politischen Beziehungen, nicht zuletzt durch Verwandtschaft innerhalb der Monarchien, überlagern häufig Gegebenheiten und Fakten und führen zu verheerenden Fehleinschätzungen des „Gegners“. Alle halten sich grundsätzlich für friedfertig, dennoch bestimmt eine latente Aggressivität schliesslich das Handeln. Clark geht vor allem auch der Frage nach, ob der Krieg hätte verhindert werden können. Seine Antwort lautet eindeutig: Ja!

Das Buch hat einige seiner besten Momente, wenn auf scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten hingewiesen wird:……wenn Kaiser Wilhelm II NICHT in einer entscheidenden Stunde zum Segeln gewesen wäre…..wenn das Auto Franz Ferdinands sich in Sarajevo an die geplante Route gehalten hätte….

Der 1.Weltkrieg, so verstehen wir mit diesem Buch, entstand nicht nur aus weltpolitischen strategischen Überlegungen, sondern aus vielen sehr persönlichen Unzulänglichkeiten, Vorurteilen, Rankünen. Das politische Personal der Zeit erfasste die Dimension des Risikos nicht, bzw. konnte sich das Ausmass der Kriegskatastrophe auch mit den neuen technischen Möglichkeiten nicht vorstellen. Und irgendwann gab es kein Zurück mehr. Alle waren letztlich „schuld“.

Ein wichtiges Grundlagenwerk, um die Fragilität einer „Europäischen Union“ ermessen zu können, aber auch, um zu verstehen, welche bedeutende Voraussetzung für Frieden in Europa sie doch ist. Sie ist es wert, bewahrt zu werden!

Christopher Clark, „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. 896 S., DVA, 2013

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„Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament“

Berlin-Besucher zieht er magisch an: der Deutsche Bundestag mit seiner begehbaren Glaskuppel des Architekten Norman Foster. Es ist das am meiste besuchte Bauwerk der Stadt. Aber nur einige nutzen die Gelegenheit, auch seiner Funktion als Deutschlands Parlament nahezukommen. Besucher dürfen maximal eine Stunde auf die Zuschauerränge unter strengen Regeln: keine Fotos, keine Zwischenrufe, kein Applaus, keine Handys und keine Nahrungsaufnahme, auch kein Nickerchen.

Der Schriftsteller und Journalist Roger Willemsen wollte es genau hören und sehen, was das Parlament Deutschlands tut und erwirkte sich – jede Woche neu-  eine Sondergenehmigung für den dauerhaften Besuch im Wahljahr 2013 an jedem Sitzungstag vom Anfang bis zum Schluss, manchmal erst gegen Mitternacht. Er beobachtete und notierte aufmerksam und arbeitete auch noch insgesamt 50 000 Seiten Parlamentsprotokolle durch. Damit liefert er uns ein einzigartiges und präzises Bild aus dem Hohen Haus unseres Landes, von dem Ort, an dem alle Entscheidungen fallen, die uns betreffen. Und von dem wir selten und nur in kurzen Ausschnitten per TV erfahren. Aber wie ist das komplette Bild abseits der Kameras im parlamentarischen Alltag?

Schnell wird klar: Hier wird zwar öffentlichkeitswirksam  abgestimmt, aber die Diskussionen, Vereinbarungen und Entscheidungen finden nicht hier statt, sondern in Gremien, Kommissionen, Arbeitsgruppe und geschlossenen Foren. Der Bundestag ist eine Art Schaubühne des deutschen Parlamentarismus, aber keineswegs sein Maschinenraum.

Da sind die neuen Abgeordneten, die mit tiefer Überzeugung das erste Mal auftreten, da sind die kühlen Routiniers und auch die Sprücheklopfer und Zwischenrufer. Da sind die Rituale der Nichtachtung vom offensichtlichen Aktenstudium und Simsen bis zum herzlichen Gespräch mit Kollegen – deutlich zur Schau getragene Unaufmerksamkeit. Es gibt die großen Debatten und Feierstunden, Situationen der Rührung, der Freude, des Schreckens sogar und des leidenschaftlichen Protestes. Ebenso aber finden sich ernüchternde Beobachtungen aus der Stammeskultur des Parlamentariers. Willemsen nimmt niemanden aus und bleibt unbestechlicher Zeuge. Mehrfach beschreibt er die Gewohnheit der Kanzlerin, sich bei Reden der Oppositionsgranden tief in ihre Handtasche zu verabschieden.

Der Autor zeigt uns nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von den Kameras erfaßt wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Seine hervorragende Beobachtungsgabe, seine Geduld und Empathie machen aus diesem Tagebuch des deutschen Parlamentarismus eine überraschend spannende und erhellende Studie über die Demokratie in Deutschland.

Roger Willemsen. Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament. 397 S, S.Fischer Verlag, 2014

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„Schrecklich amüsant“

Sicher waren sie schon mal auf einer Kreuzfahrt oder haben damit geliebäugelt – mal von allen Seiten verwöhnt werden, umsorgt, animiert und dabei durchs Mittelmeer oder die Karibik schippern. Und wer weiss – vielleicht trifft man sogar den einen oder anderen Promi an Bord.

Zum Beispiel den amerikanischen Erfolgsschriftsteller David Foster Wallace. Dieser hatte sich im Auftrag der Zeitschrift Harper’s Magazine für eine Woche auf Kreuzfahrt durch die Karibik begeben. Und er nahm seinen Auftrag ernst und alles genau in den Blick: seine mitreisenden Zeitgenossen, den fast hyperperfekten Roomservice, die Funktionsweise der Bordtoiletten und das unendliche Amüsierprogramm zur Total-Verwöhnung.

Wallace beeindruckt durch seine feine Beobachtungsgabe und seine Selbstironie. Man stelle sich einen Mann vor, der die Stille liebt, der Individualist ist, der alle Gleichmacherei hasst und der nun plötzlich im Trubel eines Kreuzfahrtschiffes landet – ausweglos! Aber Wallace kneift nicht, sondern macht mit und ärgert sich sogar, nur den 3. Preis beim Wettbewerb für das schönste Männerbein gewonnen zu haben. Und er kann es kaum fassen: Animateure sorgen die ganze Zeit dafür, dass niemand zur Besinnung kommt. Jeglicher freie Moment wird mit Spiel, Spaß und Wellness vollgepfropft und wehe, einer entzieht sich dem allgemeinen Freudentaumel.

Sein guter Wille erlahmt dann aber doch und er rettet sich in die mit Häppchen versorgte Ruhe seiner Luxuskabine. Mit seinen Journalisten-Fragen zur Amüsiermaschinerie an Bord hat er sich ohnehin bei den schicken weiss uniformierten Offizieren als möglicher Störenfried verdächtig gemacht. Denn hinter der ewig lächelnden Verwöhn-Arbeit steckt ein strenges Regiment, das keinerlei Abweichung zulässt.

Mit ausdauernder Komik notiert er seine Beobachtungen und bringt den Leser zum Schmunzeln, Lachen, Prusten. Hinter dem vergnüglichen Essay steckt eine ausnehmend kluge Kulturkritik, die mitreißend und amüsant zugleich zu lesen ist. Wallace hat eine köstliche Phänomenologie der Kreuzfahrten verfasst, und wie bei ihm üblich, steckt Entscheidendes in seinen umfangreichen Fußnoten.

David Foster Wallace, ein Großer der amerikanischen Gegenwartsliteratur, nahm sich 2008 mit 46 das Leben. Sein Buch von 1997 taucht immer passend zur Reisezeit wieder auf und verliert nichts von seiner Frische.

David Foster Wallace. Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich. 185 S., Goldmann, 2004

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Das Ideal der Einfachheit. Eine Biografie

Im November 2013 wäre Albert Camus, der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger, 100 Jahre alt geworden. Verlage, Magazine und Autoren nutzten dieses Jubiläum zu einer erneuten Auseinandersetzung und Würdigung . Iris Radisch, Literaturkritikerin der ZEIT, Romanistin und profunde Kennerin von Camus‘ Werk, verfaßte eine hervorragend recherchierte, geradezu liebevoll geschriebene Biografie dieses wirkungsmächtigen Dichters – heute der am meisten übersetzte, gelesene und gekaufte Autor Frankreichs.

In zehn Kapiteln, die sich an die Schlüsselbegriffe Camus‘ halten – die Welt, der Schmerz, die Mutter, die Menschen, dieWüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer – erzählt Iris Radisch dieses kurze, intensive Leben, das 1913 in einem Armenviertel in Algier begann, 1957 in der Verleihung des Nobelpreises für Literatur gipfelte und 1960 tragisch sein Ende bei einem Autounfall in Südfrankreich fand: ein Leben voller Gegensätze und Extreme.

Als 17jähriger Schüler erfährt Camus von seiner Lungekrankheit, die ihm später die Aufnahme in den Schuldienst und ins französische Militär verstellt. Er weiss nun, dass sein Leben kurz sein wird. Mit aller Kraft liest, schreibt, lebt er gegen die Todesangst an. Die sorglosen Tage der Jugend am Meer, zwar in Armut, aber voller Sonne, Licht und Versprechen wird er in seinem „Ideal der Einfachheit“ besingen und daraus das „mittelmeerische Denken“ entwickeln. Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Zivilisationskritik an der industrialisierten Welt des 20. Jahrhunderts und ihren totalitären Ideologien, sei es Faschismus, sei es Kommunismus. Hier, so Radisch, sei Camus besonders visionär und von unverminderter Aktualität.

Die intellektuelle Pariser Linke wird ihn wegen seiner Kommunismus-Kritik ausgrenzen, und Sartre selbst wird Camus für sein Buch „Der Mensch in der Revolte“ als „schlechten Denker“ abqualifizieren, eine Kritik, die bis heute von der sogenannten französischen Linken bemüht wird.

Camus plädiert in diesem Text für ein Leben in Einfachheit, Bescheidenheit und im Einklang mit der Natur. Er konturiert den Konflikt zwischen dem effizienten, durchorganisierten Norden Europas im Gegensatz zum lebensfrohen Süden – eine Gegenüberstellung die auch in heutigen Europa-Debatten immer wider auftaucht. Camus fordert dazu auf, sich für dieses „Ideal der Einfachheit“ zu engagieren, dafür zu kämpfen. Der Mensch solle frei, souverän und ohne Angst leben. In seinen letzten Lebensjahren erkennt Camus allerdings, dass auch sein Leben zu oft diese Maxime aus dem Blick verloren hat.

Camus‘ Werk umfasst rund zwei Dutzend Theaterstücke, Erzählungen und Romane, beginnend mit „Der letzte Mensch“. Sein letztes Manuskript-Fragment, das er bei seinem Autounfall in einer Aktentasche mit sich trug, lautete – rückblickend? – „Der erste Mensch“.

Wer diesen bedeutenden Autor und Intellektuellen des 20. Jahr-hunderts entdecken oder wiederentdecken möchte, dem wird diese großartige Biografie von Iris Radisch das Universum Camus als großes Lesevergnügen öffnen.

Iris Radisch. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biografie. Rowohlt. 2014

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Ein Frühling in Jerusalem

Wir kennen Wolfgang Büscher durch seine Wanderungen von Berlin nach Moskau oder von Nord nach Süd durch die Vereinigten Staaten von Amerika, niedergelegt in überaus erfolgreichen Büchern, für die er bedeutende Literaturpreise erhielt.

Diesmal hat Büscher nicht Tausende Kilometer zu Fuss zurückgelegt. Vielmehr gräbt er sich behutsam durch die historischen Schichten der Stadt Jerusalem, Tag für Tag, zwei Monate lang am Ursprung des Christentums.

Büscher beginnt im arabischen Viertel der Stadt, wohnt zunächst in einem kleinen Hotel am Jaffa-Tor, später dann in einem griechischen Konvent der Kreuzritterstadt. Jeden Tag durchstreift er die Stadt, beobachtet, nimmt in sich auf, trifft sich zu Gesprächen mit Einwohnern wie dem mehrsprachigen Charly, letzter Spross einer seit mehreren Generationen in Jerusalem ansässigen Familie. Dieser zeigt ihm Stück für Stück „sein“ Jerusalem, in dem er zu den wenigen verbliebenen Christen zählt. Denn in dieser multiregligiösen Stadt verschieben sich allmählich die Gewichte: der Anteil der Christen wird immer geringer. Und Charlie wundert sich über das Desinteresse der Christen in der Welt: Was ist los mit Euch? fragt er Büscher.

Aber freitags mischen sich die Religionen, pilgern die Christen auf der Via Dolorosa, eilen die Juden zur Klagemauer und die Moslems auf den Tempelberg. Und es begegnen sich tief verschleierte Frauen, westlich gekleidete junge Männer, orthodoxe Juden in ihrer typischen Kleidung, Araber in beduinischen Mänteln. Der Leser versteht die spirituelle Kraft und auch Spannung, die bis heute von Jerusalem ausgeht.

Der Ursprung des Christentums verbindet sich mit der Grabeskirche, die tagtäglich von Touristen und Gläubigen besucht wird. Büscher lässt sich eine Nacht in ihr einschließen, um ohne den Tagestrubel diesen Ort in seiner tiefen Bedeutung zu verstehen. In einem Interview beschreibt er dies so: „Da kommt jemand abends um sieben, steigt auf sein Leiterchen, holt einen Riesenschlüssel, steckt den in das uralte Schloss und schließt von außen zu, und morgens um sieben kommt er wieder und schließt auf. Dazwischen ist Schluss: Es kommt keiner raus, keiner rein. Es wird dann ganz still.“

Als deutschem Schriftsteller schlägt ihm nicht nur wohlwollende Neugier entgegen. Ein Vertreter der jüdischen Siedlerbewegung verweigert ihm ein Treffen.

Anhand von sorgfältig zusammengetragenen Lebensgeschichten entsteht ein vielschichtiger Einblick in die seit 2000 Jahren unentwirrbar miteinander verknüpften Machtverhältnisse um den Tempelberg – für Christen, Juden und Moslems gleichermaßen von hoch aufgeladener religiöser Bedeutung. Bis heute ist der Tempelberg der Dreh- und Angelpunkt des Konflikts zwischen Juden und Moslems, ein brisanter und vitaler Konflikt, wie dieses Buch deutlich zeigt: „Einen so hoch konzentrierten Ort voller Geschichte, voller Religion und auch voller Geschichten findet man selten sonst auf der Erde.“

Wolfgang Büscher. Ein Frühling in Jerusalem. Rowohlt 2014, 240 S.

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Atlas eines ängstlichen Mannes

Jules Vernes verbinden wir mit seiner Reise um die Welt in 80 Tagen. Christoph Ransmayr beschreibt uns seine Welterfahrung in 70 Episoden von jeweils wenigen Seiten.

Ransmayr, dessen Zuhause das Reisen ist, erzählt von Begegnungen in der Wüste, im Himalaya, am Nordpol, in Chile oder Österreich gleichermaßen genau beobachtend und staunend, immer aufs Neue fasziniert vom Dasein. Auf seinen ausgedehnten Reisen über die letzten Jahrzehnte begleitet ihn sein Notizbuch; er notiert mit Bleistift (wasserfest!) – er nimmt buchstäblich von der Welt „Notiz“. Jede Episode beginnt er mit den Worten „Ich sah…“. Das gibt diesen Erzählungen etwas Statisches, Archaisches, fast Mystisches.

Der Autor bezeichnet sich selbst – und das mag zunächst verwundern – als „ängstlichen Mann“. Das sei nicht zu verwechseln mit „Angst haben“, sondern beschreibe die instinktive Vorsicht und Aufmerksamkeit, die uns existenziell zum Schutz gegeben ist, sobald wir uns in unbekanntem Gelände befinden. Katastrophen, Verlust und Tod lauern überall, um die Ecke wie auf fremden Kontinenten – in der Wüste und im Himalaya, in tosenden Stürmen oder schwimmend mitten unter Buckelwalen. Freilich will sich Ransmayr nicht zum Abenteurer stilisieren, vielmehr lehrt er uns das Augenöffnen und Staunen. In den heutigen übersatten Bilderfluten nahezu eine zivilisatorische Rettungsaktion. Zu Recht galt das Buch 2012 als eine der herausragenden Neuerscheinungen.

Ransmayr, dessen letztes Epos „Der fliegende Berg“ sechs Jahre zurücklag, vermag wie kein anderer das Faszinosum der Tiefen der Welt zu vermitteln und die Würde, die erhabene Stille einer Natur – ohne Menschen. Danach scheint er immer und überall auf der Suche zu sein. Dies führt er selbst auf seine Jugenderfahrung auf dem Dorf zurück. „Ich bin ja auf dem Dorf aufgewachsen und es gab da immer eine besondere Nähe zu Tieren……Als Kind war ich von indianischem Selbstverständnis erfüllt, wenn man so will, und ich habe auch immer versucht, in Tieren so etwas wie Personen zu entdecken.“

Christoph Ransmayr. Atlas eines ängstlichen Mannes. S.Fischer Verlag 2012, 456 S.

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